- X.com
- Messenger
- Messenger
Rund 4000 Bürgern im baden-württembergischen Kraichtal hat der Mediziner Dieter Hassler seit 1987 Blut abgezapft. Jede Probe untersuchte er auf Antikörper gegen die berüchtigte Zeckenkrankheit Lyme-Borreliose. Das ist eine Infektion durch ein Bakterium, das vom gemeinen Holzbock, einer Zeckenart, übertragen wird. Das überraschende Ergebnis: Bei 16,7 Prozent der Probanden zwischen drei und 94 Jahren war der Test positiv.
Die meisten Betroffenen wussten nicht einmal, dass sie je von dem gemeinen Holzbock gestochen worden waren (korrekt heißt es Stich, nicht Biss). Der Infektiologe schrieb zehn Jahre später über die Zwischenergebnisse seiner Zeckenforschung seine Habilitation, und führte die Untersuchungen mit wechselnder wissenschaftlicher Besetzung fort. Nach nunmehr zwei Jahrzehnten Forschung ist Dieter Hassler, heute Landarzt im Kraichtal, überzeugt: Bei einer Borreliose-Infektion gibt es keine Spontanheilung. "Alle seropositiv Getesteten wurden spätestens nach acht Jahren klinisch symptomatisch", bestätigte er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Das menschliche Immunsystem könne offensichtlich die Erreger nicht ausrotten. Wie Syphilis, HIV, und Hepatitis B und C sei auch Borreliose nicht selbstheilend, sondern müsse zum richtigen Zeitpunkt mit Antibiotika behandelt werden.
Hassler gibt zu, dass diese Erkenntnis lange wissenschaftlich umstritten war. "Aber einen fundierten Gegenbeweis konnte bisher keiner führen", sagt er. Seine 20-Jahres-Studie, die noch nicht veröffentlicht ist, sowie eine ältere Untersuchung von 1989 des Amerikaners LR Petersen an rund 1200 Probanden sind die einzigen international existierenden Langzeituntersuchungen. Sonstige Erkenntnisse zu Borreliose basieren auf Stichproben und Erfahrungswerten. Die Pharmaindustrie engagiert sich auch nicht in der Borreliose-Forschung, da die gängigen Medikamente längst patentfrei sind.
Das Tückische an der Borreliose ist der verzögerte Ausbruch
In der ersten Infektionsphase nach einem frischen Zeckenstich empfiehlt Hassler Antibiotika in Tablettenform: Doxycyclin für Erwachsene sowie das Amino-Penicillin Amoxicillin für Kinder und Schwangere. Im chronischen Stadium hat sich eine zwei- bis dreiwöchige Infusionstherapie mit Cefotaxim oder Ceftriaxon bewährt. Schon der erste Behandlungszyklus heilte bereits 82 Prozent seiner Patienten dauerhaft; der Rest brauchte bis zu vier Infusionsserien. Nur drei Kranken mit Allergien gegen Breitband-Antibiotika war nicht zu helfen. Folglich verkündet Hassler, wie jüngst auf dem Internisten-Kongress in Wiesbaden: "Lyme-Borreliose ist heilbar." Was ihm allerdings einige Protest-Mails von Selbsthilfe-Organisationen einbrachte, die von unheilbaren Krankheitsfällen berichteten. Inzwischen reisen Patienten von weit her ins Kraichtal.
Das Tückische an der Lyme-Borreliose ist der verzögerte Ausbruch. "Bei den Erregern einer Lungenentzündung ist nach zwei Wochen klar, wer gewonnen hat - der Mensch oder die Bakterien", sagt Hassler. "Die Borrelien hingegen agieren anfangs weniger aggressiv." Sie dringen zögernd, etwa drei Millimeter pro Tag, in den Körper vor, und vermehren sich im 24-Stunden-Zyklus. Ebenso langsam reagiert auch die Immunabwehr. Die erste sichtbare Reaktion zeigt sich meist erst ein bis zwei Wochen nach dem Zeckenstich: Rund um die Stichwunde bildet sich eine ringförmige Hautrötung, die sogenannte Wanderröte. Später klagen manche Betroffene über Abgeschlagenheit, leichtes Fieber, Kopfschmerzen und Herzklopfen, was aber üblicherweise als Sommergrippe abgehakt wird. Es kann sogar zu Rückenschmerzen kommen wie bei einem Bandscheibenvorfall. Weil aber viele Zeckenopfer nie ein solches Tier an ihrer Haut entdeckt haben, wird die richtige Diagnose in diesem Stadium oft verpasst.
Es folgt ein beschwerdefreies Intervall von Monaten bis Jahren. Borrelien gelingt es, vor der körpereigenen Abwehrtruppe im Bindegewebe, in Sehnen und Knorpel unterzutauchen. Werden bei einer prophylaktischen Blutuntersuchung während dieser Ruhezeit Antikörper entdeckt, solle der Arzt nicht gleich mit Penicillin-Hämmern zuschlagen, rät Hassler. "Denn die Bakterien sprechen am besten auf Antibiotika an, wenn der Patient die ersten Beschwerden verspürt." Als typische Symptome gelten chronische Müdigkeit, extremer Nachtschweiß, Herzrhythmusstörungen, Arthritis in Knie- oder Sprunggelenken, Hüften oder Handwurzeln. Es kann sich auch eine Neuropathie ausbilden, die sich durch Kribbeln in den Beinen und Gefühllosigkeit in den Fußsohlen bemerkbar macht.
Anders als bei der - auch von Zecken übertragenen - Virenkrankheit FSME (Frühsommer-Meningo-Enzephalitis) gibt es gegen Borreliose keinen Impfstoff. Und die meisten Sprays und Lotionen gegen Zecken sind nach jüngster Untersuchung der Stiftung Warentest ihr Geld nicht wert. Das gilt nach Hasslers Erfahrung auch für Zeckenzangen und -pinzetten. Bei drei von vier Saugern, die bisher an Menschen gefunden wurden, handelte es sich nicht um ausgewachsene Tiere, sondern 1,5 Millimeter kleine Nymphen - eine noch nicht ausgewachsene Zecke. "Und die werden zerquetscht, wenn Laien mit Wurstfingern und falschem Werkzeug daran herumpopeln und gar noch versuchen, sie nach links- oder rechtsdrehenden Heilslehren herauszuwürgen", warnt Hassler. Die negative Folge: Vorm Zerquetschen geben die winzigen Biester noch besonders viele Borrelien ab, die im Darm der Spinnentiere leben und erst mit der Speichelflüssigkeit in die Blutbahn des Wirtes gelangen.
Keine Panik nach einem Zeckenstich
Normalerweise dauert dieser Erregervorstoß bis zu 24 Stunden. Folglich bleibt genügend Zeit, die entdeckte Zecke von einem Arzt mit der Spitze des Skalpells fachgerecht heraushebeln zu lassen. Vor allem mit rechtzeitigem Skalpelleinsatz habe er inzwischen auch seine immer noch endemische Studienregion Kraichtal saniert, meint Hassler. Bis Mitte der neunziger Jahre lag die Zahl der jährlichen Neuinfektionen in diesem Borreliose-Endemiegebiet bei 500 pro 100.000 Einwohner. Jetzt nur noch bei 100.
Dass Panik nach einem Zeckenstich unnötig ist, bestätigt auch eine seit 1998 laufende Studie des Landesgesundheitsamtes Baden-Württemberg und dem Hygiene-Institut Heidelberg. Dabei wurden 5000 Zecken untersucht, die an Patienten gefunden wurden. 15 Prozent der Spinnentiere waren mit Borrelien infiziert. Und nur bei vier Prozent aller Stiche kam es bislang zu einer Transmission des Erregers. Folglich empfehlen aufgeklärte Mediziner ihren gestochenen Patienten, erst einmal die Zecke zu untersuchen, statt gleich Antibiotika einzusetzen. Einen solchen Labortest auf Zecken-Befall (PCR) gibt es in vielen Praxen neuerdings als IGeL (selbst zu zahlende Individuelle Gesundheitsleistung) für 35 Euro, meldete die "Ärzte Zeitung" im Mai.